Lebensnah
Big Data und die therapeutische Beziehung
Gastkommentar von PAUL HOFF
Die Diagnostik, also das Erkennen und Bezeichnen von Krankheitszuständen, ist ein etabliertes, im Grundsatz unbestrittenes Element der Medizin. In einem ihrer Teilgebiete, der Psychiatrie, liegen die Dinge wieder einmal komplizierter: Seit sich das Fach im 19.Jahrhundert zu einer eigenständigen Disziplin entwickelte, kommt die Debatte über Nutzen und Risiken psychiatrischer Diagnosen und die ihnen zugrunde liegenden Krankheitsmodelle nicht zur Ruhe. Zwei Kritikpunkte stechen hervor: Diagnosen seien inakzeptable soziale Demarkationslinien. Überdies verfehlten sie als formalisierte Konstrukte die Individualität der Person in ihren Lebensvollzügen. Jüngst formierte sich eine weitere kritische Phalanx von eher unerwarteter Seite: Die Neurowissenschaft setzt auf objektivierbare und quantifizierbare Parameter und die Künstliche-Intelligenz-Forschung auf sehr grosse, auch durch soziale Netzwerke und Gesundheits-Apps generierte Datensätze. Was treibt diese Entwicklung an? Die heutige psychiatrische Diagnostik–wie das in der Schweiz verbindliche Diagnose-Manual ICD-10 der WHO –basiert auf berichteten oder beobachteten psychopathologischen Symptomen, etwa depressive Verstimmung, Sinnestäuschungen, Wahngedanken. Diese Symptome werden definiert und gruppiert; Verknüpfungsregeln geben den Entscheidungsweg für den diagnostischen Prozess vor. Referenzpunkte sind dabei das klinische Erscheinungsbild sowie seit dem frühen 20. Jahrhundert tradierte Krankheits- Entitäten wie Schizophrenie oder bipolare Erkrankung. Die Kritik setzt genau hier an und kommt zu einem beunruhigenden Schluss. Die gängige Diagnostik beharre in überkommenen Denkmustern und verkenne die Chancen innovativer Ansätze, ja sie seien in veritables Forschungshindernis. Brauchen wir nicht, so fragen die Kritiker, diagnostische Prozeduren ganz anderer Art, die sich weniger an Erleben und Verhalten der betroffenen Personen an stark subjektiv gefärbten Phänomenen, ausrichten, sondern an objektivierbaren, meist biologischen Parametern? Wird uns nicht die in grossem Stil betriebene Auswertung von Daten über Menschen mit einer, sagen wir, psychotischen Erkrankung viel mehr Neues über diese psychopathologischen Zustände lehren als die blosse Subsumierung individueller Symptome unter die ICD-10-Diagnose «Schizophrenie»? – Die Protagonisten bejahen diese Fragen und prognostizieren ein neues Begriffsraster für die Psychiatrie, das quer zu den traditionellen Krankheitseinheiten stehen und diese früher oder später ablösen werde. Nicht starre Diagnosen seien das Ziel, «hinter» denen vorgegebene
Krankheiten stünden, sondern fluide Modelle eingeschränkter kognitiver, affektiver und sozialer Funktionen. Dies werde dem Individuum weit eher gerecht und bieten zu den fruchtbaren Ansatzpunkten für die psychiatrische Forschung. «Denosologisierung», der gewollte Verlust der Lotsenfunktion klassischer Krankheitsbegriffe, avancierte zum Markenzeichen aktueller Diagnose-Kritik. All dies führte zu einem ebenso bunten wie dissonanten Reigen von Voten. Erreicht von der eisernen Verteidigung der klassischen Diagnose über deren Verknüpfung mit modernen Forschungsmethoden bis hin zur prinzipiellen Ablehnung. Nun ist eine solche Meinungsvielfalt kein Nachteil, ganz im Gegenteil: Die Psychiatrie muss mehr dimensional sein, so wie es auch ihr Forschungs-«Gegenstand» ist, die psychisch erkrankte Person. Aber wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die Perspektivenvielfalt unseres Faches muss auf einem Verständnis der Psychiatrie als interpersonal konstellierter Handlungswissenschaft aufbauen: Forschung zu biologischen Markern psychischer Erkrankungen sowie das Durchforsten riesiger Datenmengen auf der Suche nach neuartigen Zusammenhängen sind vielversprechende Ansätze. Sie ersetzen aber nicht das qualitative Moment psychiatrischen Arbeitens, vor allem die therapeutische Beziehung. Als Technik ist die Diagnose quantifizierbar und normier bar. Sie ist aber stets auch Beziehung, und als solche umfasst sie Subjektivität und Interpersonalität. Wir brauchen ein patientenzentriertes Zusammen-Denken dieser beiden Welten «Individuum plus «BigData» sozusagen. Psychiatrisch diagnostizieren heisst, zum handlungs-, also therapierelevanten Problem-Kern vorzudringen. Das bedingt die konsequente Zusammenschau biologischer, psychischer und sozialer Faktoren, aber eben nicht in je punktueller Verkürzung, sondern unter Einbezug des Erlebens- und Wert Horizontes der Person, um die es geht. Eben dieses Personale in der Psychiatrie – immer als Element der Medizin – darf im Zeitalter der Digitalisierung weder naiv idealisiert noch wissenschaftlich diskreditiert werden. Das ist und bleibt eine grosse Aufgabe.
Paul Hoff ist stellvertretender Direktor der Psychiatrie PUK Zürich